Antenne Bayern - Nachgedacht: November 2015


Montag, 09. November 2015

TALENTE

„Stell dir vor, ich habe einen Job!“, sagt Iris. Sie ist ganz aufgekratzt.

„Oh, ist ja toll, was denn für einen?“, frage ich.

Sie erzählt von einer Ausbildung. Neun Monate hat die gedauert. Jetzt  arbeitet sie bei einem Frauenarzt. Es geht um die Früherkennung von Brustkrebs. Iris kann besonders gut tasten. Knoten in der Brust, auch ganz kleine, findet sie. Mit ihren Fingerspitzen ist sie unschlagbar. Der Tastsinn hat sich bei ihr besonders gut entwickelt. Denn Iris ist von Geburt an blind.

„Weißt du“, sagt sie, „früher habe ich viele Jobs nicht bekommen, weil ich blind bin. Jetzt habe ich endlich einen Job. Und zwar, weil ich blind bin. Verstehst du das?“ Sie lacht, ist glücklich.

Wenn ich so was höre, denke ich an eine Erzählung in der Bibel. Da heißt es, wir sollen unsere Talente entdecken und entwickeln. Talente hat jeder Mensch. Jeder und jede kann sie bei sich selbst entdecken. Aber genauso schön ist es, sie bei anderen zu finden. So wie der Frauenarzt, der Iris eingestellt hat. Er hat gemerkt, wie das Praxisteam mit Iris noch besser wird.

„An Iris Fingerfertigkeit komme ich nicht ran“, sagt er. „Die ist in unserer Praxis die Königin des Tastens.“

Iris, die Königin des Tastens. Ist das nicht schön?


Ich wünsche Ihnen eine gute Nacht

Felix Leibrock, Evangelische Redaktion

 

Dienstag, 10. November 2015

MITFAHRER

Ich fahre viel Auto. Immer nehme ich Mitfahrer mit. Es war vor ein paar Tagen. Ich komme zum vereinbarten Treffpunkt am Stachus in München. Der Mitfahrer namens Tommaso ist nicht da. Ich rufe ihn an. Er ist im Zug unterwegs.

„I am in Italy!“ 

Ich breche das Gespräch ab. Dieser Tommaso ist in Italien! Ich fasse es nicht. Während der Autofahrt komme ich so richtig in Rage. An einer Raststätte schreibe ich ihm eine Nachricht. Dass ich sein Verhalten nicht gut finde und so. Ich hätte so viele andere mitnehmen können.

Nach vier Stunden komme ich an. Als erstes schaue ich aufs Handy. Keine Reaktion von Tommaso.

„Nicht mal antworten hast du nötig. Also echt, total unsozial!“, schreibe ich ihm.

Am nächsten Tag kommt eine Nachricht von Tommaso.

„Lieber Felix, es tut mir so leid. Aber das war ein Missverständnis.“ Und dann nennt er das Datum, an dem er mitfahren wollte. Ich prüfe es nach. Ist das peinlich. Ich habe tatsächlich den Termin verwechselt. Tommaso ist völlig unschuldig. Ich entschuldige mich bei ihm. Und schäme mich nicht nur ein bisschen.

Wir sollen die Dinge zum Guten kehren, sagt Martin Luther. Das hätte ich bei Tommaso besser auch getan. Anstatt ihm gleich Schlechtes zu unterstellen.

Sorry, Tommaso!


Ich wünsche Ihnen eine gute Nacht

Felix Leibrock, Evangelische Redaktion

 

Mittwoch, 11. November 2015

FRÜHSTÜCK FÜR VERLIEBTE

In einem Café sitzen Max und Sara. Sie sind vielleicht 17 Jahre alt. Sie haben ein Frühstück für Verliebte bestellt. Gemeinsam haben sie fünf Semmeln. Jeder isst zwei, dazu Honig, Marmelade und so weiter. Jetzt ist noch eine Semmel übrig.

„Schatz, iss du die letzte Semmel“, sagt sie.

„Nein, Schatz, iss du sie. Wenn ich sie esse, esse ich sie dir ja weg“, sagt er.

„Ja, Schatz, aber wenn ich sie esse, esse ich sie dir weg“, sagt sie.

So geht das eine Weile. Dann sagt Sara: „Lass uns die Semmel doch teilen, Schatz!“

„Oh, ja, eine gute Idee, Schatz“, sagt er. Er schneidet die Semmel durch.

„Möchtest du die obere oder die untere Hälfte, Schatz“, fragt er.

„Ich möchte die obere haben, Schatz. Denn die untere ist besser, die sollst du haben“, sagt sie.

„Aber dann nehme ich dir doch die bessere Hälfte weg, Schatz…“

Ich sitze am Nachbartisch und denke: Boah, sind die verliebt!

Ich frage mich: Hält man das so bis zur Goldenen Hochzeit durch? Ich fürchte, nein. Kein Mensch kann immer nur gut sein. Wir machen Fehler, werden am Partner, an der Partnerin schuldig. Viele Beziehungen zerbrechen an so etwas. Andere geben sich eine neue Chance. Vergeben sich. Wo Vergeben passiert, hat die Bibel ein Wort dafür: Liebe.

Liebe ist Arbeit. Aber die Arbeit lohnt sich.


Ich wünsche Ihnen eine gute Nacht

Felix Leibrock, Evangelische Redaktion

 

Donnerstag, 12. November 2015

DIE SYRERIN

Ein Sprachkurs für Menschen, die aus Syrien geflohen sind. Eine Frau jenseits der fünfzig nimmt teil. Sie ist Analphabetin. Sie muss also Lesen und Schreiben lernen. Und dann auch noch die schwierige deutsche Sprache.

Sie soll das Wort „Kamel“ an die Tafel schreiben. Etwas weiter links auf der Tafel steht das  Wort bereits. Mit dem Augenwinkel schielt sie dahin und schreibt das Wort ab. Manche Buchstaben malt sie spiegelbildlich verkehrt. Sie braucht lange.

Diese Frau, so erfahre ich, war das Zentrum ihrer Familie in Aleppo. Sie hat alle bekocht, Kleider genäht, war Beraterin in allen Lebenslagen für Kinder und Enkel. Sie hat sich wohl gefühlt. Bis die Bomben und Gewehre kamen. Sie hatte die Wahl, irgendwann in den Trümmern ihres Hauses zu sterben oder mit ihrer Familie zu fliehen. Jetzt ist sie hier. In einem fremden Land. Und schreibt mit zitternder Hand Kamel an die Tafel. Diese Frau möchte nach Syrien zurück. Sie möchte wieder ihr altes Leben haben. Friede in Syrien. Das ist der größte Wunsch dieser Frau. Dafür betet sie. Und ist damit nicht allein.

Wenn viele beten, kann das die Welt verändern. 


Ich wünsche Ihnen eine gute Nacht

Felix Leibrock, Evangelische Redaktion


Sonntag, 29. November 2015

DIE KISTE

Ich habe nach der Schulzeit meine Heimat im Saarland verlassen. Auch meine Eltern habe ich seitdem immer nur noch ein paar Mal im Jahr gesehen. Wenn es so auf Weihnachten zuging, habe ich immer ein großes Paket bekommen. Von meiner Mutter. Darin waren Nürnberger Lebkuchen. Darüber habe ich mich immer riesig gefreut.

„Mama, das ist das Schönste. Weil ich bei jedem Lebkuchen, bei jedem Zimtstern an dich denke. Und du denkst an mich.“

Vor einigen Jahren ist meine Mutter gestorben. Die Kiste mit den Lebkuchen kam nicht mehr.

Jetzt laufe ich durch Schwabing. In einem Laden sehe ich genau die Lebkuchenkiste, die mir meine Mutter immer geschickt hat.

Uiii, toll, die kaufe ich mir, sage ich mir. Der Laden ist schon geschlossen. Ich will am nächsten Tag hingehen. Doch den ganzen Abend denke ich darüber nach.

Am nächsten Morgen steht mein Entschluss fest. Nein, ich werde mir die Kiste nicht kaufen. Denn das Besondere war, dass sie von meiner Mutter gekommen ist. Manche Dinge sind im Leben für immer vorbei. Das muss ich akzeptieren. Abschiede, die muss man üben. Auch wenn‘s weh tut.

 

Ich wünsche Ihnen eine gute Nacht

Felix Leibrock, Evangelische Redaktion