Montag, 26. Juli 2021
Weisheit
Pierre studiert Maschinenbau. In seiner Freizeit kocht er manchmal für obdachlose Menschen. Tischt ihnen in einer Einrichtung auf.
„Hast du denn in deiner Freizeit nicht Besseres zu tun?“, frage ich.
„Am Anfang habe ich mich das auch gefragt“, sagt er. „Aber mittlerweile schätze ich diese Stunden.“
„Weil du gerne kochst? Geschirr abspülst danach?“
„Nein“, antwortet Pierre, „Ich mag die Gespräche mit den Obdachlosen. Sie erzählen mir, warum sie jetzt auf der Straße leben. Wo in ihrem Leben die Brüche waren.“
„Aha, verstehe“, sage ich. „Solche gescheiterten Leben zu hören, das ist spannend.“
„Nein“, sagt Pierre, „ich bin kein Voyeur. Ich habe keinen Spaß daran, das Scheitern anderer zu hören. Aber erstens habe ich das Gefühl, es tut den Obdachlosen gut. Wenn ihnen jemand zuhört. Und zweitens lerne ich von ihnen, mein eigenes Leben zu leben. Niemals aufgeben! So lautet einer ihrer Grundsätze zum Beispiel.“
Was Pierre mir erzählt, beeindruckt mich. Er opfert auf den ersten Blick Zeit für andere. Aber auf den zweiten Blick wird mir klar: Er wird dafür auch reich beschenkt. Mit Lebenserfahrungen. Mit Weisheit.
Und morgen ist ein neuer Tag
Felix Leibrock, Evangelische Redaktion
Dienstag, 27. Juli 2021
Der Hecht
Moritz angelt seit vielen Jahren. Aber er fängt nie einen Fisch. Jetzt hat er sogar den Angelschein gemacht. In der Theorie ist er spitze. In der Praxis geht einfach nichts.
Ich sitze mit ihm an einem See. Er hat seine Angel ausgeworfen. Plötzlich zieht da was an Moritz‘ Angel. Und wie! Ganz stark!
„Moritz, da ist ein Fisch dran“, rufe ich ihm zu.
„Jaaa“, schreit er aufgeregt. Und tatsächlich. Der Fisch an der Angel ist ein ziemlich großer! Die Freunde von Moritz eilen herbei. Sie haben auf einer Wiese Fußball gespielt.
„Hey, Moritz, komm, zieh ihn raus!“ Sie feuern ihn an. Dann liegt der Fisch im Ufergras. Ein riesiger Hecht.
„Ich werfe den Grill an“, ruft einer von Moritz Freunden. Sie rennen zum Grillplatz.
Und Moritz? Sieht die aufgerissenen Augen des Hechtes. Kurz zögert er. Dann zieht er dem Fisch den Haken aus dem Maul und – wirft ihn wieder ins Wasser.
„Hey, Moritz, was war jetzt das“, frage ich ihn.
„Ich kann das nicht“, sagt er nur.
Vom Grillplatz her rufen sie nach Moritz und dem Hecht. Doch der Hecht schwimmt wieder seine Runden. Und Moritz fährt mit dem Fahrrad nach Hause.
Und morgen ist ein neuer Tag
Felix Leibrock, Evangelische Redaktion
Mittwoch, 28. Juli 2021
Punkrock
Am Bahnhof sehe ich zwei junge Frauen. Unverkennbar Zwillinge. Sie haben sich bei ihrer Mutter untergehakt.
„Ich freue mich so auf das Konzert“, sagt Jessi, die eine der beiden.
„Und ich erst“, sagt Janine, die andere.
Sie steigen in den Zug nach München ein, den ich auch nehme. Wir sitzen am Vierertisch. Die Zwillinge erzählen mir, wie sie zum Punkrock gekommen sind. Punkrock, ich hab keine Ahnung, was das ist.
„Da kannst du dich voll austoben. Kommst du mit zum Konzert?“, fragen sie mich.
„Aber ich bin doch für so was sicher viel zu alt“, wende ich ein.
„Nein, bist du nicht. Für Musik ist man nie zu alt, egal, welche Richtung“, behaupten sie.
So reden wir noch eine ganze Weile über Musik und Gott und die Welt. Mit ihrer Begeisterung stecken die beiden Frauen mich richtig an. Wir tauschen unsere Nummern aus. Ja, vielleicht gehe ich wirklich mal mit zum Punkrock.
Jessi und Janine haben die Gabe, positiv zu denken. Sich zu freuen auf etwas in der Zukunft. Die beiden sind übrigens blind. Aber das fällt mir erst wieder ein, als sie beim Aussteigen ihre Stöcke auspacken.
Und morgen ist ein neuer Tag
Felix Leibrock, Evangelische Redaktion
Donnerstag, 29. Juli 2021
Fresskorb
„So, lieber Opa, und das ist für dich!“
Herr Meiers Tochter Heike und die drei Enkel strahlen ihn an. Er hat seinen 85. Geburtstag. Lebt im Seniorenheim. Sie halten ihm einen Weidenkorb mit einer Flasche Wein, Grissini, Gurken, geräucherter Wurst und Schokolade entgegen. Fresskorb nennt man so was im Volksmund.
„Danke euch“, sagt Herr Meier. Die Familie fährt mit ihm in ein Restaurant zum Essen. Abends sitzt er wieder alleine in seinem Zimmer im Seniorenheim. So Tage wie heute sind die Ausnahme. Seine Tochter, die Enkel, sie sind alle so eingespannt. Haben selten Zeit für ihn. Er schaut den Fresskorb an. Irgendwie ist Herr Meier wehmütig.
Ist gut gemeint, denkt er sich. Ein Fresskorb. Pah! Zeit miteinander wäre mir tausend Mal lieber. Aber wo gibt’s einen Korb voll mit Zeit zu kaufen? Nicht mal im Internet findet man das.
Zeit für andere haben. Sich ihnen zuwenden. Gerade denen, die so einsam sind, wie Herr Meier. Ich kenne viele, die ehrenamtlich einsame alte Menschen besuchen. Sie leisten damit etwas ganz Wichtiges: Zeigen den Einsamen, das wir sie nicht abschreiben. Die Einsamen unter uns hungern nicht nach Grissini und Gurken. Sie wollen sich unterhalten, erzählen, zuhören.
Felix Leibrock, Evangelische Redaktion
Sonntag, 01. August 2021
Heiratsantrag