Antenne Bayern - Nachgedacht: Juli 2018


Montag, 2. Juli 2018

Zwei Strumpfhosen

 „Meine Freundin Lena zieht ihren Kindern immer zwei Strumpfhosen an“, sagt mir Yasemin, eine junge Mutter.

 „Damit sich die Kinder nicht erkälten?“, frage ich.

 „Ja genau, doppelt hält besser, denkt sie“, sagt Yasemin.

 „Und, hilft das?“, frage ich.

 „Nein, ihre Kinder sind viel häufiger krank als meine. Sie schwitzen viel mehr, erkälten sich dann leichter.“

 Was Yasemin erzählt, hat für mich symbolische Bedeutung. Wie oft sichern wir uns im Leben doppelt und dreifach ab. Wenn ich allein an meinen Ordner zuhause mit all den Versicherungen denke! Natürlich ist das wichtig, das Versichern. Gegen Krankheiten, Einbruch, Wasserschaden. Aber es gibt auch Dinge, da geht das nicht mit dem Versichern und Absichern. Die Liebe zu einem anderen Menschen zum Beispiel. Ich kann versuchen, sie abzusichern. Indem ich den geliebten Menschen kontrolliere, ständig frage, ob er oder sie mich denn auch noch liebt. Übertreibe ich das, erkrankt die Liebe. Die Liebe, so heißt es in der Bibel, eifert nicht, sie glaubt alles, hofft alles, duldet alles. Man kann auch sagen: Liebe hat kein Netz und keinen doppelten Boden. Gerade deswegen ist sie so was Besonderes. So was Schönes.

 

Und morgen ist ein neuer Tag

Felix Leibrock, Evangelische Redaktion

 

Dienstag, 3. Juli  2018

Hundefutter

 Ich habe ihn geliebt. Meine Eltern haben ihn mir geschenkt, als ich klein war: Einen Colliehund. Ich gebe ihm den Namen Lassie. Ich streife mit ihm über die Felder, stiefele mit ihm durch den Fluss. Er ist mein Freund. Vielleicht mein bester.

An einem Sommertag liegt Lassie auf seinem Kissen. Er frisst nichts. Er ist krank.

„Es ist wichtig, dass er isst und trinkt“, sagt der Tierarzt.

Ich bin mit Lassie allein.

„Lassie, komm, bitte, iss doch wenigstens ein bisschen was“, bettele ich. Aber Lassie reagiert nicht. Dann habe ich eine Idee. Ich nehme mir einen von diesen rostbraunen Crackern, dem Hundefutter, und stecke ihn mir in den Mund. Ich kaue das Hundefutter laut. Es knackt. Lassie schaut auf. Dann schnappt er sich auch einen Cracker und fängt an zu kauen.

Seit damals weiß ich: Wenn es Freunden schlecht geht, muss man sich was Besonderes einfallen lassen. Sie sind es wert. Lassie war ein paar Tage später wieder gesund. Und wir sind wieder über die Felder gesprungen.

 

Und morgen ist ein neuer Tag

Felix Leibrock, Evangelische Redaktion

 

Mittwoch, 4. Juli  2018

Die Bücheraussetzerin

 Seit Tagen wiederholt sich das Schauspiel. Eine alte Frau kommt in den Park. Sie schaut sich um. Wenn sie sich unbeobachtet fühlt, legt sie etwas auf eine Bank. Dann eilt sie weiter.

Ich schaue mir an, was sie da hinlegt. Es sind Bücher. Tolstoi, Goethe, Shakespeare.

Wieder habe ich Mittagspause. Wieder sitze ich im Park. Wieder kommt die Frau. Wieder legt sie heimlich Bücher auf Bänke.

„Ich würde gerne wissen, warum Sie hier Bücher auslegen?“, frage ich sie.

„Weil ich alt bin. Ich ziehe bald ins Heim. Da habe ich wenig Platz“, sagt sie.

„Sie haben Angst, die Bücher beim Umzug wegwerfen zu müssen?“

„Ja, vielleicht. Meine Kinder interessieren sich nicht für Literatur.“

Sie überlegt kurz, dann sagt sie: „Bevor wir aus dem Leben gehen, sollten wir noch Spuren hinterlassen.“

Über diesen Satz denke ich nach. Die Frau beobachtet die Bank auf der anderen Seite der Wiese. „Da, schauen Sie …“, sagt sie aufgeregt.

Ein junger Mann schlägt gerade eins der Bücher auf. Sie strahlt mich an.

„Ich muss weiter“, sagt sie.

 

Und morgen ist ein neuer Tag

Felix Leibrock, Evangelische Redaktion

 

Donnerstag, 5. Juli  2018

Notruf

Notruf bei der Polizei! Nur das leise Wimmern eines Kindes ist zu hören. Dann bricht die Verbindung ab. Passiert da gerade etwas Schlimmes? Die Polizei ortet die Nummer, fährt zur Adresse, klingelt. Ein Junge, zehn Jahre alt und mit verweinten Augen, öffnet.

„Warum hast du den Notruf gewählt?“

„Weil, weil … ich die Hausaufgaben nicht kapiere.“

Wenn man in Not ist, ist es gut zu wissen, an wen man sich wendet. In der Bibel gibt es einen verzweifelten Mann. Er hebt seine Augen zu den Bergen auf und fragt: „Woher kommt mir Hilfe?“ Die Antwort gibt er sich später selbst: „Meine Hilfe kommt von Gott, der Himmel und Erde gemacht hat.“

Der Zehnjährige hat Hilfe bei der Polizei gesucht. In diesem Fall nicht die richtige Adresse. Obwohl: Es ist nicht bekannt, wie die PolizeibeamtInnen den Fall gelöst haben. Ob sie sich im Interpretieren von Gedichten versucht haben? Oder im Bruchrechnen?

 

Und morgen ist ein neuer Tag

Felix Leibrock, Evangelische Redaktion

 

Sonntag,  08. Juli 2018

Der Pate

Ein ICE entgleist. Mehr als 100 Tote, viele Schwerverletzte. Das war so in Eschede vor zwanzig Jahren. Ein Fahrgast, Udo Bauch, überlebt, aber er ist seitdem zum Teil gelähmt.

"Die Menschen denken, nach zwanzig Jahren wird schon alles wieder gut sein, aber das ist nicht so“, sagt er.

Vielleicht hat Herr Bauch nur wegen Andreas Effinghausen überlebt. Das ist ein Polizist. Er hat den Verletzten unter den Trümmern gefunden. Der Polizist macht nicht nur seinen Dienst an der Unfallstelle. Er besucht den Verletzten schon bald nach dem Unfall im Krankenhaus.

„Ich wollte den Kontakt halten, wollte wissen, wie es Udo geht“, sagt er. „Es war mir wichtig, nicht nur dienstlich, sondern auch menschlich da zu sein.“

Die beiden sind Freunde geworden, treffen sich bis heute mehrmals im Jahr. Der Polizist ist außerdem der Patenonkel von Udo Bauchs Tochter geworden. Für mich ist das ein Funke Hoffnung. Selbst aus dem Schlimmsten wie diesem Unfall kann noch etwas Gutes entstehen.

 

Und morgen ist ein neuer Tag

Felix Leibrock, Evangelische Redaktion